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Flucht und Vertreibung, Teil 3: „Hoffentlich kommen wir nicht nach Sibirien …“

  • Autorenbild: Heimatarchiv Team
    Heimatarchiv Team
  • vor 2 Tagen
  • 4 Min. Lesezeit

Ilse Nitz (89) schildert ihre Erinnerungen an die Vertreibung aus ihrer schlesischen Heimat und an den Neuanfang in Edewecht 1946 gegenüber dem Heimatarchiv Edewecht.


Die Furcht vor einem Bahntransport in das menschenfeindliche Sibirien war tatsächlich das, was Liesbeth Gröger (damals 36 Jahre alt) umtrieb, als im Juni 1946 von offizieller Seite angeordnet wurde, die alte Heimat in Breslau innerhalb kürzester Frist zu verlassen und sich mit den notwendigsten Habseligkeiten auf den Weg in eine ungewisse Zukunft zu machen. Mit ihren Kindern Ilse, Norbert und Ulrich wurde Liesbeth Gröger in einen Güterzug gezwängt, dessen Ziel den zahlreichen Vertriebenen aus der schlesischen Metropole vollkommen unbekannt war.


Nach einer langen Fahrt, die von Angst, unhaltbaren hygienischen Bedingungen sowie Enge, Hunger und Durst gekennzeichnet war, erreichte der Zug in den Mittagsstunden des 22. Juni 1946 den Bahnhof in Zwischenahn, wo die Heimatvertriebenen in Gruppen aufgeteilt und den einzelnen Zielorten im Ammerland zugeteilt wurden. Mit dem Bus ging es für die Familie Gröger, die im April 1945 den Ehemann und Vater Bruno Gröger verloren hatte, der als Angehöriger des Volkssturms durch einen Bauchschuss den Tod fand, Richtung Edewecht, wo die Neuankömmlinge nachmittags bei Kaliskes Gasthof am Markt eintrafen. Dort erfolgte anschließend die Aufteilung der Familien auf die einzelnen Unterkünfte.



Abb. 1: Ilse Nitz (89) fand mit ihrer Familie eine neue Heimat in Edewecht. (Foto: privat)
Abb. 1: Ilse Nitz (89) fand mit ihrer Familie eine neue Heimat in Edewecht. (Foto: privat)

Wohin ging es nun für Liesbeth Gröger und ihre Kinder? Die Ansage war überdeutlich: „Sie haben drei Kinder, Sie müssen nach Friedrichsfehn!“ Das war allerdings gar nicht nach dem Geschmack der resoluten Neu-Ammerländerin, die unbedingt in Edewecht bleiben wollte. Da mischte sich „Opa Schröder“ ein, der bereit war, sich für die Familie einzusetzen: „Ich bring die schon unter!“


Gesagt, getan. Kurze Zeit später fanden sich die Neubürger im „Clubzimmer“ der Gastwirtschaft Schröder am Ortsausgang Edewechts Richtung Jeddeloh wieder. Dieser mit Stroh ausgelegte Raum sollte nun für die erste Zeit in der neuen Heimat eine Unterkunft sein. Nicht lange danach bestand die Möglichkeit, eine neue, bessere Wohnung zu beziehen, nämlich genau gegenüber, im alten Bauernhaus an der Einmündung zur Janstraße. Dort konnten die Heimatvertriebenen im eigentlichen Sinne sesshaft werden und ein weitgehend „normales“ Leben führen, soweit das unter den unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg herrschenden Mangelzuständen möglich war.


Schnell knüpften die Kinder von Liesbeth Gröger Kontakte zu Gleichaltrigen in der näheren Umgebung Nord-Edewechts: Die Jungen spielten Fußball, Ilse als einziges Mädchen fand bald Anschluss an eine Gruppe von Schulkameradinnen aus der unmittelbaren Nachbarschaft. Die Töchter von Willy und Martha Kramer aus der Oldenburger Straße (Wilma, später verh. Fischer, Helga, später verh. Ritter und Gerda, später verh. Bohlen) gehörten bald zum engeren Freundinnenkreis. Mutter Liesbeth Gröger war auch relativ schnell „auf einer Wellenlänge“ mit Martha Kramer. Mit Gerda Bohlen, vielen Edewechterinnen und Edewechtern noch gut bekannt als Ehefrau von Helmut „Wein“ Bohlen, pflegt Ilse Nitz, wie sie heute heißt, immer noch eine freundschaftliche Beziehung.



Abb. 2: Luftbild Ortsausgang Edewecht Richtung Jeddeloh: Die ehemalige Gastwirtschaft Schröder (später Almon) in der Bildmitte, das Bauernhaus (später abgerissen) am linken Bildrand (Foto: Gemeinde Edewecht)
Abb. 2: Luftbild Ortsausgang Edewecht Richtung Jeddeloh: Die ehemalige Gastwirtschaft Schröder (später Almon) in der Bildmitte, das Bauernhaus (später abgerissen) am linken Bildrand (Foto: Gemeinde Edewecht)

Wie konnte sich eine vierköpfige Familie ohne Ehemann und Vater in den Nachkriegsjahren in Edewecht über Wasser halten? Wie ließ sich die wirtschaftliche Grundlage für das gedeihliche Fortkommen erzielen? Zum einen ging Mutter Gröger regelmäßig zu den umliegenden Bauern, um dort zu arbeiten. In der Regel wurde dies durch Naturalien wie Lebensmittel entgolten. Zudem bekam sie eine Witwenrente, das heute übliche Kindergeld wurde nach seiner Einführung als „Kinderbeihilfe“ ab 1935/36 nach dem Krieg erst 1954 als familienpolitische Leistung neu eingeführt.


Heutzutage ist viel von der Integration neu zu uns gekommener Menschen die Rede. Wie ging dies in der Nachkriegszeit mit den Heimatvertriebenen aus Schlesien, Ostpreußen oder Pommern vonstatten? Wenn auch in Edewecht vielfach platt geschnackt wurde, gab es sicherlich keine Sprachbarrieren. Waren denn die örtlichen Organisationen und Vereine den Neuankömmlingen gegenüber grundsätzlich positiv eingestellt? Wenn man Ilse Nitz aufmerksam zuhört, hat man den Eindruck, dass es hier beim Vorliegen eigener Offenheit wenig Probleme gab. Die Jungen fanden schnell Zugang zur Fußballabteilung des VfL Edewecht, die Mädchen – wie Ilse Gröger – entdeckten ihre Liebe zum Turnen und wurden bald Mitglieder etwa im TV Jeddeloh.


Auch in der Schule fand man rasch Anschluss in der 5. Klasse der Volksschule. Bei den Lehrkräften Piening, „Fräulein“ Koch oder Herrn Müller gehörten die neuen Schülerinnen und Schüler bald wie selbstverständlich zum Klassenverband. Es gab nach den Aussagen von Ise Nitz seinerzeit keinerlei „Sonderrolle“ oder Besonderheiten im Umgang mit den Vertriebenen.



Abb. 3: Ilse Nitz (Bildmitte) im Saal bei Ludwig Kaliske, Neujahr 1955 (Foto: privat)
Abb. 3: Ilse Nitz (Bildmitte) im Saal bei Ludwig Kaliske, Neujahr 1955 (Foto: privat)


Abb. 4: Die Theatergruppe der Vertriebenen anlässlich einer Aufführung von „Die geborgte Frau“ im Gasthof am Markt im Februar 1955 (Foto: privat)
Abb. 4: Die Theatergruppe der Vertriebenen anlässlich einer Aufführung von „Die geborgte Frau“ im Gasthof am Markt im Februar 1955 (Foto: privat)

Wo trafen sich die jungen Leute in ihrer Freizeit? Da gab es eigentlich nur einen Ort, der quasi als Mittelpunkt geselliger Aktivitäten diente, nämlich den Gasthof von Ludwig Kaliske am Markt. Dort war auch die Theatergruppe der Heimatvertriebenen zu Hause, die sich regelmäßig zu Proben und Aufführungen oder auch zum geselligen Beisammensein traf. Aus so manche spätere Eheschließung nahm da ihren Anfang.


Das Kapitel „Breslau“ war für die junge Generation der Vertriebenen im Verlauf der Jahre bald abgeschlossen. Erst gute 70 Jahre nach dem Verlassen der alten Heimat zog es Ilse Nitz als Rentnerin wieder dorthin. Mit einem Busunternehmen ging es in die inzwischen sehr veränderte schlesische Metropole für einen Kurzbesuch. Die Schönheit Breslaus und die vielen jungen Menschen waren für die Besucher beeindruckend. Liesbeth Gröger fasste das Verhältnis zu ihrer neuen Heimat im Ammerland so zusammen: „Breslau ist meine Heimat, Edewecht ist mein Zuhause!“






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