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Flucht und Vertreibung, Teil 2: Winter 1944/45 – Mit zehn Kindern von einer Front zur anderen

  • Autorenbild: Heimatarchiv Team
    Heimatarchiv Team
  • 9. Nov.
  • 5 Min. Lesezeit

Der Winter in der Schlussphase des Zweiten Weltkrieges war in Mitteleuropa außergewöhnlich kalt. Die Rote Armee drängte von Osten her immer weiter auf das Gebiet des Deutschen Reiches vor, Ostpreußen gehörte in diesen Tagen zu den hart umkämpften Frontabschnitten des Krieges, sodass viele Zivilisten den harten und entbehrungsreichen Weg gen Westen einschlugen, um den russischen Truppen zu entkommen. So erging es auch Lydia Grätsch, die sich im Januar 1945 mitsamt ihren Kindern von der Heimat nahe der ostpreußischen Hauptstadt Königsberg (heute russ. Kaliningrad) verabschieden musste. Das Heimatarchiv sprach mit Waltraut Jasper (88) über die Flucht aus dem Osten und den Neuanfang in der Gemeinde Edewecht.

 

Ein kleines Dorf im Landkreis Labiau (heute Polest im russischen Oblast Kaliningrad) unweit des Kurischen Haffs: Hier in Theut (heute Saranskoje), einem kleinen Dorf mit etwa 150 Einwohnern, lebt die Familie von Fritz (geb. 1907) und Lydia Grätsch (geb. 1902) mit ihren 10 Kindern (im Jahr 1945 im Alter von anderthalb bis 16 Jahren). Der Vater ist bis zur Einberufung zur Wehrmacht als Vorarbeiter auf einem typisch ostpreußischen Gutshof beschäftigt, die Mutter kümmert sich um die kleine Wohnung, die der Familie zur Verfügung steht und sich außerhalb des Gutes befindet, und um die Kinderschar.

 

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Abb. 1: Waltraut Jasper (88), floh mit ihrer Familie 1945 aus Ostpreußen (Foto: privat)

 

Im Winter 1944/45 tobt der Endkampf zwischen der Wehrmacht und der immer weiter nach Westen vorrückenden Roten Armee in der Heimat der Familie Grätsch. Wie so viele andere Bewohner Ostpreußens entschließt sich Lydia Grätsch mit den Kindern Heinz, Georg, Fritz, Dora, Grete, Eva, Waltraut, Bernhard, Elfriede und Kurt, dem Nesthäkchen, zum Verlassen der Heimat Richtung Westen. Das Familienoberhaupt Fritz Grätsch lag zu dieser Zeit als Soldat mit einem gebrochenen Bein im Lazarett, sodass die Flucht ohne den Vater und Ehemann stattfinden muss. Wie aber nun mit einer elfköpfigen Gruppe zum Bahnhof nach Labiau gelangen, von wo eine Zugverbindung nach Westen bestand? Geld war nicht genug vorhanden, sodass ein paar Schweine zur Begleichung der Schuld herhalten mussten, die dem Nachbarn ausgehändigt wurden, um mit dessen Kutsche Richtung Bahnhof zu gelangen. Was konnte mitgenommen werden? Außer ein paar warmen Sachen und einer Truhe mit Bettwäsche war nur noch Platz für eine Zinkwanne und einen Sack voll mit getrocknetem Brot. Und eine schöne alte Uhr gehörte ebenfalls zum Gepäck, ansonsten waren keine Wertsachen dabei.

 

So ging es dann an einem eiskalten Januartag 1945 von Labiau aus auf die Reise ins Ungewisse, wobei es keine normale Abfahrt am Bahnhof war, denn der Krieg und der Frontverlauf waren auch dort bereits unmittelbar in Form von Beschuss und Fliegerangriffen zu spüren. Glück im Unglück: Die Familie Grätsch erwischte einen geschlossenen Waggon eines Personenzuges, aber ohne Innenausstattung, sodass man sich auf dem Wagenboden einrichten konnte. Alles ging ziemlich hektisch und mit viel Drängelei vonstatten, wie sich Waltraut Jasper, damals sieben Jahre alt, erinnert. Mutter Grätsch versorgte die Kinder sparsam mit dem angefeuchteten Brot, zu trinken gab es wenig, hin und wieder hielt der Zug und es wurde Wasser verteilt.

 

So wurden die ersten Bahnkilometer auf der Flucht vor der Front zurückgelegt. Recht bald erfolgte der Umstieg in einen anderen Waggon, einen offenen Wagen, und das bei heftigen Minustemperaturen, was angesichts nicht ausreichender Bekleidung unweigerlich zu Erfrierungen führte.

 

Nach einer längeren Zeit erreichte der Zug endlich sein Ziel, aber nicht – wie man annehmen könnte – auf dem westlichen Reichsgebiet, nein, als die Flüchtlinge den Zug verließen, befanden sie sich auf dänischem Staatsgebiet. Hier, in einem umzäunten Lager, bekamen die Menschen endlich etwas zu essen und einen Platz zum Schlafen in einer Halle, allerdings nicht in einem Bett, sondern erneut auf dem Boden. Am zweiten Tag des Aufenthalts erfolgte die Entlausung, neue Kleidung gab es jedoch nicht. Die Flüchtlinge wurden von den noch auf dänischem Staatsgebiet anwesenden Besatzungssoldaten der Deutschen Wehrmacht verpflegt, die auch für die gesamte Organisation und Verwaltung des Flüchtlingslagers zuständig waren.


Für die in der Halle Untergebrachten blieb nur das Warten und die Hoffnung auf einen baldigen Aufbruch in eine neue Zukunft. Der Winter blieb eiskalt, was zu sehr innovativen Ideen zur Körpererwärmung führte. Mutter Grätsch sammelte vor der Halle dampfende Pferdeäpfel auf und zertrat diese dann in der Unterkunft, um den „Brei“ zur Erwärmung der Füße zu nutzen. Mancher Mit-Flüchtling beschwerte sich darüber und über den sich verbreitenden schlechten Geruch.

 

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Abb. 2: Das „Schwarze Haus“ in Husbäke, Hogenset 13, erbaut 1923 als Kantine für die Saatsmoor AG, rechts die Fabrik (Foto: Archiv Kuhlmann)

 

Die Familie Grätsch umfasste – wie bereits erwähnt – elf Köpfe, was dazu führte, dass sie relativ bald aus dem Dänenlager entlassen und Richtung Norddeutschland in Marsch gesetzt wurde. Dort traf sie dann am 19. März 1945 in Edewecht ein und wurde nach Husbäke weitergeleitet. Dort wurde ihr das sogenannte „Schwarze Haus“ auf der anderen Kanalseite (Hogenset) als vorübergehende Unterkunft zugewiesen. Dieses Gebäude erhielt die Bezeichnung aufgrund der sehr dunklen Außenmauern und diente als Behausung für Moorarbeiter, die dort auch ein kleines Geschäft und eine Kantine vorfanden. Man schlief mit vier Personen in einem Bett, es gab lediglich einen kleinen Raum, in dem sich die elfköpfige Familie notdürftig einrichtete.

 

In dieser engen Behausung blieb die Familie Grätsch allerdings nicht lange, bald zog man um in eine Baracke in der Breslauer Straße. Wie für alle Flüchtlinge stellte sich immer wieder die Frage nach dem Lebensunterhalt, der ja auch noch ohne den Vater bestritten werden musste. Lydia Grätsch fand bald eine Stelle auf dem Gut Jordanshof, von wo sie täglich eine größere Kanne Milch mitbrachte, die dann vorzugsweise zu Milchsuppe für die Kinderschar verarbeitet wurde. Auf dem Ofen geröstetes Brot gab es meistens dazu. Die etwas älteren Kinder wurden, auch um in der Baracke mehr Platz zu haben, bei umliegenden Bauern in Stellung gegeben, wo sie Kost und Logis erhielten.

 

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Abb. 3: Husbäke, Breslauer Str. (um 1952). Die Baracke im Hintergrund wurde von der Familie Grätsch bewohnt. (Foto: Archiv Kuhlmann)

 

Ging es der Familie nun auch etwas besser, zeigte der Krieg, der ja noch nicht zu Ende war, seine ganze hässliche Fratze in den Apriltagen 1945. Just in diesem Frontabschnitt fanden die erbitterten Kämpfe statt, in denen es die alliierten Streitkräfte mit heftigem deutschem Widerstand vor allem sehr junger Wehrmachtssoldaten zu tun bekamen. Immer wieder floh die Familie Richtung Moor, wo provisorische Schutzmöglichkeiten gegen Fliegerbeschuss gegeben waren. Somit war Lydia Grätsch mit ihren 10 Kindern vor der einen Front im Osten geflohen und geriet am anderen Ende des Reiches tatsächlich noch in Kontakt mit der Front im Westen. Die grauenhafte, Angst erzeugende Kulisse der letzten Kriegshandlungen begleitete die gesamte Einwohnerschaft am Küstenkanal über mehrere Tage, bis schließlich Edewecht in die Hand der Alliierten gefallen war.

 

Die Mangelernährung und die schwierigen hygienischen Verhältnisse (u.a. Wasserentnahme aus dem Küstenkanal) blieben nicht ohne Folgen. Waltraut Grätsch erkrankte an Typhus und wurde in das Krankenhaus Husbäke (früher „Reichsbräuteschule“) eingeliefert, wo sie wieder gesund gepflegt wurde.

 

Bald wurde auch der durch die Flucht unterbrochene Schulbesuch wieder aufgenommen. Nach der Schule in Husbäke gab es allerdings keine Freizeit zum Spielen oder zum Knüpfen von Freundschaften, Kinder wie Waltraut wurden an den Nachmittagen zur Arbeit im Moor herangezogen. Sie erinnert sich noch ganz genau an das „Hochstuken“ des Torfes (Stapeln) zum Zweck der Trocknung. Die Hausaufgaben mussten so am Abend gemacht werden. Es war durch diese Umstände schwierig, neue Freunde oder über sportliche Aktivitäten Anschluss zu finden. Vereinsmäßiger Sport wurde, so erinnert sich Waltraut Jasper heute, erst im Konfirmationsalter, also zu Beginn der 50er Jahre, betrieben.

 

Was wurde aus Fritz Grätsch, der ja seit der Trennung Anfang 1945 keinen Kontakt mehr zur Familie hatte? Mit Hilfe des Suchdienstes des Roten Kreuzes fand auch er nach Husbäke und arbeitete dort fortan als Baggerführer. Da er ein starker Raucher war, so Waltraut Jasper leicht schmunzelnd, ging so mancher von den Kindern erarbeitete Groschen buchstäblich in Qualm auf, sodass in der anbrechenden Nachkriegszeit wenig Geld für neue Kleidung übrigblieb.

 

Nach der Konfirmation und dem Schulabschluss wurde Waltraut Grätsch in Osterscheps bei Oltmer in Osterscheps in Stellung gegeben. Auf dem Hof von Meirose, wo ihre Schwester Dora später zu Hause war, lernte sie dann einige Jahre darauf ihren späteren Ehemann Johann Jasper kennen. Ihre alte Heimat in Ostpreußen hat Waltraut Jasper nie wiedergesehen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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