Flucht und Vertreibung, Teil 1: Zwischen Hoffen und Bangen – Dreieinhalb Jahre in Dänemarks Flüchtlingslagern
- Heimatarchiv Team

- 17. Okt.
- 6 Min. Lesezeit
In Lasken (bei Sorquitten) im ostpreußischen Kreis Sensberg (Regierungsbezirk Allenstein) kommt Christel Maerz (Geburtsname Borries) am 22. März 1932 zur Welt. Sie lebt heute mit 93 Jahren in ihrem Haus in Edewecht und unterhielt sich mit dem Heimatarchiv über ihre bemerkenswerte Flucht aus dem Osten in den letzten Januartagen des Jahres 1945.

Die Edewechterin Christel Maerz (93), 1945 aus Ostpreußen geflohen
Sie habe eine „arme Kindheit“ gehabt, erzählt Christel Maerz, wenn sie an die ersten Jahre ihres Lebens in ihrer ostpreußischen Heimat zurückdenkt. Die Eltern Anna und Fritz Borries, sie Hausfrau und Mutter, er zunächst Waldarbeiter, später dann Flugzeugmechaniker in Heiligenbeil, bewohnten mit ihren Kindern Christel und Kurt (geboren 27. Juli 1930) eine kleine Mietwohnung in einer Holzhütte ohne Wasser und ohne Strom. Im Sommer ging es barfuß durch die masurische Landschaft, für den Winter gab es ein einziges Paar Schuhe. Christel besuchte bis fast zum vollendeten 12. Lebensjahr die Volksschule in Groß Stamm, nur wenige Kilometer von Lasken entfernt. Nach der Schule wurde gearbeitet, um etwas Geld zum Lebensunterhalt beizutragen, dies galt vor allem auch für die Ferienzeit. Das Dorf Lasken, in dem sich das Leben von Christel und ihrer Familie abspielt, umfasst lediglich ca. 11 Häuser mit insgesamt etwa 15 Familien.
Die Winter in Masuren sind für gewöhnlich kalt und schneereich, der Winter 1944/45 stellt die Einwohner Ostpreußens jedoch auf eine besonders harte Probe, die Temperaturen fallen auf minus 20 Grad, und der seit 1941 andauernde Krieg des Deutsche Reiches gegen die Sowjetunion („Unternehmen Barbarossa“) geht in seine entscheidende Phase. Die Front nähert sich nun auch der Heimat von Christel und ihrer Familie. Bereits zu Weihnachten 1944 waren deutsche Soldaten im Gebiet Sorquitten einquartiert. Zudem waren bereits Flüchtlinge aus dem Reichsgebiet weiter östlich anzutreffen.
Angesichts der ausweglosen Situation fiel bald nach dem Jahreswechsel der Entschluss, die alte Heimat zu verlassen und mit dem Zug vom Bahnhof in Sorquitten die Flucht gen Westen anzutreten. Die Versuche, einen Platz in den völlig überfüllten Zügen zu ergattern, schlagen fehl. Auch die übrigen Dorfbewohner kämpfen mit diesen Schwierigkeiten, sodass schließlich vom Laskener Bürgermeister Klinger kurzerhand der Beschluss gefasst wird, das Dorf zu Fuß zu verlassen. So tritt Anna Borries mit den Kindern Christel und Kurt am 29. Januar 1945 die Flucht in eine unbestimmte Zukunft an, während Vater Fritz im Baltikum als Flugzeugmonteur seiner kriegswichtigen Tätigkeit weiterhin nachgeht.

Januar 1945 – Menschen auf der Flucht nach Westen (Urheber: Anefo National Archief NL gemeinfrei)
Der Fußmarsch Richtung Westen ist zwar anstrengend, aber wärmt zumindest den Körper etwas auf, während Bürgermeister Klinger die Gruppe der Flüchtenden als einziger auf einem Wagen begleitet und auch Christels Bruder Kurt „an Bord“ hat. Irgendwo unterwegs wurde die Familie getrennt, und Mutter Borries marschierte mit der kleinen Christel ohne Kurt weiter. Nach langen Jahren stellte sich schließlich heraus, dass er vom Krieg unbeschadet in Ost-Berlin gelandet war. Der Weg führte die Menschen zunächst bis ins etwa 130 km entfernte Elbing, dort konnte ein Bus bestiegen werden, der bis Danzig fuhr. Dort blieb Familie Borries erst einmal, um sich auszuruhen. Einige Tage darauf ging es mit einem Zug weiter Richtung Pommern, bis heftiger russischer Beschuss bewirkte, dass der Zug zurück nach Gotenhafen (heute Gdingen/Gdynia) fuhr. Dort konnten sich die Flüchtlinge wieder ein paar Tage ausruhen und wurden verpflegt. Unglücklicherweise bekam Mutter Borries auf Grund der Strapazen und der mangelhaften hygienischen Zustände Typhus, eine Besserung stellte sich erst allmählich ein, sodass es mit etwas zeitlicher Verzögerung von Gotenhafen aus weiterging.
Am 30. März 1945 wurden die Flüchtlinge mit einem Boot bis zur Halbinsel Hela vor Gotenhafen gebracht, und dort stieg man bereits unter heftigem russischem Beschuss auf das Schiff „Lappland“ um, das die Passagiere über die Ostsee bis nach Kopenhagen in Dänemark brachte, wo sie am 1. April 1945 eintrafen. Hier spielte auch wieder das Glück eine Rolle, denn nicht jedes Schiff mit Flüchtlingen an Bord kam unbeschadet durch. Wie die mit Flüchtlingen und Wehrmachtsangehörigen überfüllte „Wilhelm Gustloff“, die am 30. Januar 1945 vor der pommerschen Küste von russischen Torpedos versenkt wurde (mehrere tausend Tote), war auch einige Tage vor dem Auslaufen der „Lappland“ ein weiteres Flüchtlingsschiff in der Ostsee gesunken. Umso froher waren die an Bord befindlichen Menschen, als sie schließlich in Sicherheit waren. Man stelle sich vor, wie sich die Neuankömmlinge in der Fremde gefühlt haben mögen: müde, erschöpft, verunsichert, abgemagert von wochenlangen „Notrationen“ und vor allem in Kleidung, die seit Beginn der Flucht aus Ostpreußen nicht mehr gewechselt worden war!
Nach der Ankunft wurden die Flüchtlinge zunächst in von den deutschen Besatzungsbehörden zu diesem Zweck beschlagnahmten Schulen, Sportanlagen, Hotels, Lagerhallen und teilweise auch in Privatunterkünften untergebracht. Nach der Kapitulation Deutschlands wurden die Flüchtlinge aus ursprünglich etwa 1.100 kleineren Lagern von den nunmehr zuständigen dänischen Behörden in bewachten Großlagern – in der Regel in ehemaligen Wehrmachtsunterkünften – untergebracht, weil die Alliierten eine Rückführung der Flüchtlinge nach Deutschland untersagt hatten.

Dankbar für jede Unterkunft – Flüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten im Winter 1944/45 (Quelle: The British Army in North-west Europe 1944-45 B14701.1945, Imperial War Museum, gemeinfrei)
Nach einigem Hin und Her wurden Anna Borries und ihre Tochter Christel zunächst dem Flüchtlingslager 74 in der Kopenhagener Vigersler Allee 108 zugeteilt. Dort waren sie vom 5. April 1945 bis zum 5. Januar 1946 untergebracht. Christel besuchte dort die Volksschule. Nach der Kapitulation des Deutschen Reiches erfolgte die Auflösung des Lagers, und die Familie Borries wurde in das Lager 130 in Kopenhagen-Kloevermarken verlegt. Am 28. Juni 1946 wurde Christel aus der 8. Klasse der Volksschule entlassen. Vorher wurde sie am 2. Juni 1946 in der ev. Kirche zu Kloevermarken konfirmiert. Am 21. Oktober 1947 wurde auch dieses Lager aufgelöst, und die Geflüchteten mussten erneut umziehen, sodass das Lager in Grove (Mitteljütland) nunmehr das Zuhause war. Dort gab es auch neue Kleidung – Mutter Borries leitete die Kleiderkammer – und sogar ein Kino. Wie konnten so viele Menschen im Lager verpflegt werden? Mit Hilfe des Roten Kreuzes und vor allem mit amerikanischen Care-Paketen konnte vieles bewegt werden.
Am 8. November 1948 war es dann soweit. Im Rahmen der Familienzusammenführung nach dem Zweiten Weltkrieg gelangte Christel mit ihrer Mutter Anna (noch) nicht ins Ammerland, aber ins angrenzende Friesland, genauer gesagt mit dem Zug nach Bockhorn, weil im 12 km entfernten Dringenburg eine Tante wohnte. Von Bockhorn aus ging es dann weiter nach Moorwinkelsdamm auf einen Bauernhof, dem die Familie Borries zugeteilt worden war. Der Bauer hatte sich zunächst heftig gegen die Aufnahme der Flüchtlinge aus dem Osten gewehrt, konnte jedoch gegen die amtliche Entscheidung nichts ausrichten. Christel wurde mit ihrer Mutter eine kleine Kammer am Ende des Stalles zugewiesen.
Was war inzwischen mit Vater Borries geschehen? Der Flugzeugmechaniker hatte, wie erwähnt, im Baltikum seine kriegswichtige Aufgabe und war kurz vor Kriegsende mit einem kleinen Flugzeug Richtung Westen geflogen, um der russischen Militärmaschine, die von Osten anrollte, zu entkommen. Im guten Glauben, den Russen entkommen zu sein, landete er leider etwas zu früh – und fiel prompt den Soldaten der Roten Armee in die Hände. Nun geriet er doch noch in russische Kriegsgefangenschaft, aus der er erst Ende der 1940er Jahre entlassen wurde. Am 10. Oktober 1949 war die Familie Borries bis auf Christels Bruder Kurt wieder vereint. Die entbehrungsreiche Zeit im Lager blieb für Christels Vater nicht ohne Folgen, er starb bereits mit 47 Jahren.
Wie gelangte Christel schließlich nach Edewecht? Mit 17 Jahren lernte sie beim Tanzen in Halsbek ihren späteren Ehemann Günter kennen, der bereits damals ein begabter Fußballtorwart war. 1955 wurde noch in Bockhorn geheiratet, bevor im selben Jahr der Umzug nach Edewecht anstand. Hans Matthiesen, seines Zeichens Tischler, vom gleichnamigen, vielen Edewechtern noch bekannten Möbelhaus in der Hauptstraße neben der Gemeindeverwaltung, war vom Talent des jungen Mannes überzeugt und wollte Günter unbedingt für die Edewechter Fußballmannschaft an den Verein und den Ort binden. Er holte das junge Paar mit Sack und Pack persönlich ab und brachte es nach Edewecht. Hans Matthiesen stellte Günter und Christel Maerz eine Wohnung oberhalb des Möbelhauses zur Verfügung, die fortan das Domizil für Günter und Christel Maerz sein sollte. Günter, der seine ganz eigene „Flüchtlingsgeschichte“ hatte, die ihn von Danzig ins Ammerland führte, begann im stolzen Alter von 21 Jahren gemeinsam mit Manfred Dahlstrom, der damals 16 Jahre alt war, eine kaufmännische Lehre bei Meica. Der Chef, Georg Meinen, war sich sicher, mit Günter „den ältesten Lehrling aller Zeiten“ eingestellt zu haben.




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